Lautes Denken - Metakognition sichtbar machen
Metakognitiv fundiertes Lernen erfordert, im Innern ablaufende Denkprozesse sichtbar zu machen. In den Neurowissenschaften ist es üblich, dazu ein aufwändiges bildgebendes Verfahren einzusetzen: Eine Möglichkeit, die uns nicht zur Verfügung stand. Allerdings ist Lautes Denken ein höchst einfaches, ebenfalls erkenntnisförderndes Verfahren.
Aufgrund seines kommunikativ-interaktiven Charakters stellt es für unsere Zwecke sogar das sinnvollere Instrument dar. Es macht metakognitive Prozesse nämlich nicht nur sicht- sondern auch hörbar. Damit lassen sie sich kommunikativ bearbeiten, das heißt analysieren und optimieren. Lautes Denken besteht darin, alle während der Beschäftigung mit einer problemhaltigen Aufgabe ‚im Kopf‘ ablaufenden Denkprozesse in Sprache umzusetzen.
Über den Weg dieser Verbalisierung werden sie objektiviert. Sie können auf Tonträgern festgehalten und gegebenenfalls auch transkribiert werden. So entstehen Protokolle lauten Denkens (Thinking Aloud Protocol - TAP). Beide Formen der Speicherung erlauben Problemlöser:innen selbst, aber auch ihren Mitlernenden, aus den abgelaufenen Denkprozessen diejenigen herauszufiltern, die metakognitiv orientiert waren, und es besteht die Möglichkeit, sie in ihrer Funktion für den Problemlösungsprozess zu benennen. Auf diese Weise wird in der konkreten Anwendung der metakognitiven Technik das eigene Problemlöseverhalten erfasst und kann im Blick auf Stärken und Schwächen des metakognitiven Zugriffs gewertet werden.
Hier ein Beispiel:
Zwei Personen beschäftigen sich mit dem folgenden Diagramm. Die eine Person hat bislang noch nicht metakognitiv fundiert gearbeitet (Person 1 - Novize). Die zweite hingegen hat bereits an einigen der Schulungseinheiten zu Metakognition teilgenommen.
1 Die Befragung wurde vom Sachverständigenrat für Integration und Migration im Rahmen des Integrationsbarometers 2016 durchgeführt. (https://www.svr-migration.de/publikationen/einschaetzungen-und-haltungen-der-bevoelkerung-zu-asylbewerbern-ergebnisse-des-svr-integrationsbarometers-2016). Von dort sind einige Zahlen ausgewählt und zu exemplarischen Zwecken hier übernommen. Das Diagramm ist von A. Kaiser (2022) erstellt.
TAP Person 1:
„Da geht es um die Bedrohung durch Asylbewerber. Bei den drei ersten Balkengruppen fallen die Werte nach rechts ab, bis hin zu hoch. Rechts bei den beiden letzten Balkengruppen steigen sie wieder an. Die ersten drei Gruppen sind die mit dem Bildungsniveau, rechts die zur wirtschaftlichen Lage. Am höchsten sind die Balken mit den Karos, das sind die Spätaussiedler. Die empfinden Asylbewerber als bedrohlich (61%). In der Türkei… mmh Türkei echt? ... sieht es nicht so krass aus: Gut die Hälfte mit niedrigem Bildungsabschluss und mit einer schlechten wirtschaftlichen Lage sehen Asylbewerber als bedrohlich an.“
TAP Person 2:
„Puh, das sieht auf den ersten Blick etwas kompliziert aus. Am besten lese ich mal zuerst die Überschrift, um zu wissen, worum es genau geht. Aha, das ist eine Behauptung, zu der Menschen befragt werden. Das geht aus dem Untertitel hervor. Ok. Jetzt schaue ich mir mal den Aufbau des Diagramms an, ehe ich mich um die Zahlen kümmere, und sehe, ob es da irgendwelche Regelmäßigkeiten oder Zusammenhänge gibt. Hhm, die Grafik hat fünf Balkengruppen, immer mit drei Einzelbalken. Jeder der drei hat sein eigenes Muster. Ah ja, oben sehe ich zu Zuordnung: ohne Migrationshintergrund, Spätaussiedler, Türkei. Ach ja, unten steht noch, worum es bei den Balkengruppen geht: um Bildungsabschluss und die wirtschaftliche Lage. Und die sind nochmal unterteilt, bei Bildung in niedrig, mittel, hoch und bei wirtschaftlicher Lage in gut oder schlecht. Am besten schaue ich mir jetzt mal nur eine Gruppe an, um da vielleicht ein Muster zu erkennen. Dann kann ich anschließend prüfen, ob das auch bei den anderen so vorkommt. Auf Anhieb ist mir klar die Bezeichnung Spätaussiedler. Bei ohne Migrationshintergrund und Türkei bin ich mir noch nicht so ganz sicher, worum es geht. Also ich denke, man kann die Balken Spätaussiedler folgendermaßen lesen: 61 % der Spätaussiedler in Deutschland mit niedrigem Bildungsabschluss empfinden die aktuellen Zahlen der Asylsuchenden als Bedrohung. Aber solche mit hohem Abschluss tun dies nur zu 27%. Ja, Prozent, das steht an der y-Achse und oben im Text.
Und die wirtschaftlich Schwachen sehen sie ebenfalls als Bedrohung an, die wirtschaftlich Stabilen dagegen weniger. Man könnte also sagen, je niedriger der Bildungsabschluss und je schwächer die wirtschaftliche Situation ist, umso eher werden Asylsuchende als Bedrohung empfunden.“
Nach einer kurzen Pause ohne Lautes Denken spricht P2 weiter: „Das mit der Türkei ist seltsam. Ob damit wirklich das Land gemeint ist? Irgendwie ist es eigenartig, dass diese Befragung auch in der Türkei durchgeführt sein soll. Vielleicht habe ich aber auch etwas übersehen, was die Sache klärt. Ich gehe nochmal alles ganz genau von oben an durch. Also, die Überschrift gibt keinen genauen Hinweis. Das Item selbst hätte man tatsächlich auch in der Türkei den dort Befragten vorlegen können. Die Bezeichnungen unten an der x-Achse liefern auch keine klärenden Hinweise. Dann kommt ohne Migrationshintergrund. Was soll das genau heißen? Hhm, Deutsche haben keinen Migrationshintergrund. Warum steht dann aber da nicht einfach Deutsche? Tja? … Ah, langsam, dann müsste bei Spätaussiedlern auch Deutsche stehen. Das sind nämlich deutsche Staatsbürger… Hmm, ohne Migrationshintergrund?... Vielleicht ist das überhaupt der Knackpunkt. Es geht vermutlich um Befragte, unterteilt nach ihrem Migrationshintergrund. Dann hätten „die Deutschen“ in der Tat keinen Migrationshintergrund, die Spätaussiedler hätten überwiegend einen russischen, ja, und Türkei sind diejenigen Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund. Das scheint mir Sinn zu ergeben.“
Worin unterscheiden sich beide Personen im Wesentlichen? - Hier unsere Analyse
Person 1 | Person 2 | |
Planen | ||
Steuern | ||
Kontrollieren | ||
Formulierung Arbeitsziel | ||
systematischer Informationscheck | ||
bewußte Strategiewahl | ||
Formulierung von (Teil)Hypothesen |
Person 1:
Diese Person springt sozusagen unvermittelt und direkt in die Aufgabe hinein. Dem auch im Layout hervorgehobenen ersten Absatz mit dem Item der Befragung entnimmt P1 das verhandelte Thema, die „Bedrohung durch Asylbewerber“. Von dort springt sie zu den Balkengruppen, und geht entlang eines ganzheitlichen optischen Eindrucks: nämlich dass ganz grob betrachtet die drei Balkengruppen der Kategorie Bildungsniveau nach rechts hin tendenziell abnehmen, und sie genauso tendenziell bei der wirtschaftlichen Lage wieder steigen. Der nächste Zugriff versucht dann eine erste Feinddifferenzierung ins Spiel zu bringen durch die Konzentration auf die Gruppe der Spätaussiedler, veranlasst durch den beim Bildungsniveau größten Balken mit seinem 63 %. Vorübergehend ist P1 irritiert durch die Bezeichnung der dritten Gruppe als Türkei. Dies wird aber nicht weiterverfolgt. Stattdessen werden die für diese (Teil) Gruppe aufgeführten Zahlen benannt.
All dies bleibt implizit. Es werden keine Überlegungen genannt, aus denen heraus P1 den ersten Schritt unternimmt, etwa die Betrachtung der Überschrift als eine Art charakterisierender Aussage über die gesamte Aufgabe. Es wird nicht dargelegt, welche Schritte sich daran anschließen. So etwa bleibt der Übergang zu Betrachtung der Balken implizit. Es wird auch nicht ausgeführt, weshalb als erstes die Beschäftigung mit den Spätaussiedlern erfolgt und warum unmittelbar anschließend die Türkei und nicht beispielsweise die Gruppe ohne Migrationshintergrund betrachtet werden. Man kann hierüber zwar Vermutungen anstellen, etwa weil die beiden größten Balken, der bei niedrigem Bildungsniveau und der bei eher schlechten wirtschaftlichen Lage, zur Gruppe der Spätaussiedler gehören. Aber es sind eben nur Annahmen, die Person hat es nicht ausdrücklich so dargelegt.
Gerade wenn man solche Vermutungen anstellt, wird man der Person metakognitive Zugriffe unterstellen müssen, etwa gleich zu Anfang einen Planungsschritt, bei dem sie sich wohl – metakognitiv – aufgefordert haben könnte, erst einmal den Kontext zu klären, in dem die Aufgabe steht. Aber es bleibt implizit, hat nicht den Grad an Klarheit, der nötig ist, um den Vorgang gezielt als metakognitiven Spielzug hervorzuheben. Denn erst dann wird es im Weiteren möglich, an ihm und anderen metakognitiven auch Spielzügen gezielt zu arbeiten, sie also zu verbessern und Zugriffe auf ähnliche Aufgaben zu optimieren.
Person 2:
P2 beginnt ebenfalls mit der Überschrift, begründete aber warum sie das tut. Und sie deklariert diesen Schritt ausdrücklich als ersten, an den sich ebenso deutlich hervorgehoben weitere Schritte anschließen. Nachdem sie grundsätzlich weiß, auf welches Thema die Aufgabe in Form eines Diagramms eingeht, wird als nächstes Klarheit über dessen Struktur zu gewinnen versucht, um dann erst im dritten Zugriff auf die Zahlenwerte einzugehen. Im Anschluss an diese sehr allgemein gehaltene Bestimmung der Taktung des Zugriffs auf die Aufgabe liegt P2 fest, in welcher Intention sie sich mit alledem beschäftigen will: Unregelmäßigkeiten oder Zusammenhänge zu erkennen.
Insgesamt ist hier ein ausführlicher Planungsschritt durchgeführt, der jetzt anschließend in einzelne Steuerungsaktivitäten überführt wird. Dazu werden relativ systematisch die wichtigsten benötigten Informationen abgerufen, etwa die im Diagramm aufgeführten Kategorien und Subkategorien und die Legende. Man könnte den Vorgang bis hierhin als Abklärung des Zugriffs und Erschließung der angebotenen Informationen begreifen. Jetzt erfolgt ein erster Zugriff im Sinne des vorab definierten Ziels, nämlich zu sehen ob es Unregelmäßigkeiten oder Zusammenhänge gibt.
Dafür führt P2 eine explizite Strategieüberlegung durch: der Einsatz einer Art Reduktionsstrategien soll helfen, die Komplexität in der Darstellung der Balken beherrschbar zu machen. Daher die Entscheidung, zunächst nur mit einer Gruppe zu arbeiten. P2 scheint hier ein hypothetisches Verfahren durchführen zu wollen. Sollte sich dort ein Muster erkennen lassen, ließe sich das als Hypothese formulieren, die dann mit Blick auf die anderen Gruppierungen weiter daraufhin geprüft werden kann, ob sie sich bestätigt, ob sie vielleicht modifiziert werden oder unter Umständen wieder verworfen werden muss. Die Hypothese ist ausdrücklich formuliert: „Man könnte also sagen, je niedriger der Bildungsabschluss und je schwächer die wirtschaftliche Situation ist, umso eher werden Asylsuchende als Bedrohung empfunden.“
Das TAP lässt noch einen weiteren wichtigen Punkt erkennen: einen bewusst durchgeführten Kontrollschritt. Auch P2 ist wie P1 von der Bezeichnung Türkei irritiert. Ehe sie Vermutungen anstellt, was damit genau gesagt werden soll, verfolgt sie eine in metakognitiven Schulungen immer wieder eigens nahegelegte Frage: „Habe ich alle Informationen erfasst?“ Zur Beantwortung geht sie noch einmal systematisch das Diagramm und auch die davorliegenden Textzeilen bis hin zur Überschrift durch. Erst danach stellt sie im Abgleich mit den anderen Kategorienbezeichnungen eine Vermutung auf, was es mit der Kennzeichnung der Gruppe als Türkei auf sich haben könnte.
Gerade in Abhebung zu P1 sieht man bei P2 deutlich die Effekte einer metakognitiven Schulung:
- Erste Annäherung an die Aufgabe in der bewussten Durchführung von Planungs–, Steuerungs- und Kontrollschritten.
- Ausdrückliche Formulierung des Arbeitsziels,
- sorgfältige Erarbeitung der Informationen, die in der Aufgabe enthalten sind. Damit einher geht dann in aller Regel Abruf entsprechenden deklarativen Wissens.
- Bewusste Strategieentscheidung, die sich von Charakteristika der Aufgabe her anbieten, so etwa hier die Reduzierung von Komplexität durch Einsatz einer dem entsprechenden Reduktionsstrategie,
- Fixierung von Zwischenergebnissen, hier in Form einer Hypothese.
- Bei auftretenden Unklarheiten zunächst Durchführung eines expliziten Kontrollschrittes, um in der Aufgabe bislang übersehene Informationen zu finden, die Klarheit verschaffen könnten.
Insgesamt ist festzuhalten:
Die metakognitiven Zugriffe werden expliziert, sie werden deutlich benannt, in eine stimmige Reihenfolge von Planen - Steuern - Kontrollieren gebracht, wobei sich diese Schritte auch miteinander verzahnt könnten, und es wird eine bewusste Strategiewahl getroffen.